- Ideologien des 19. Jahrhunderts: Liberalismus, Konservativismus, Nationalismus
- Ideologien des 19. Jahrhunderts: Liberalismus, Konservativismus, NationalismusDie moderne Welt, die durch die politisch-ideologische Anschubkraft der Französischen Revolution erst Dynamik und Gestaltungskraft erhielt, spiegelt sich einprägsam in Begriffen wie Liberalismus, Konservativismus und Nationalismus wider, die seitdem die politisch-soziale Gedankenwelt Europas geprägt haben und nicht zuletzt, wenn auch modifiziert, heute noch Grundpositionen politischen Denkens und Handelns bezeichnen. Allerdings existierten diese Begriffe als solche zum Zeitpunkt der Revolution noch nicht, wie sich zudem in Mittel- und Westeuropa unterschiedliche terminologische Zuordnungen herausbildeten. Nicht mehr philosophische Theorien, aus Natur oder Vernunft hergeleitet, sondern durch historische Erfahrungen gewonnene Begriffe prägten nun die Ideen und gaben ihnen Kontur. Als »Bilder der Vergangenheit und Deutungen der Gegenwart zugleich«, als Zeit »der Brüche, der Veränderungen, der Bewegungen und der offenen Zukunft« (Thomas Nipperdey) lässt sich die Epochenwende vom 18. zum 19. Jahrhundert charakterisieren. Aufgrund neuer Erfahrungen veränderten sich politische Positionen und ideologische Fixierungen im Laufe der Revolution.Liberalismus und KonservativismusInnerhalb der großen politischen Bewegungen haben Liberalismus und Konservativismus die politische Gedankenwelt am nachhaltigsten geprägt. Zur selben Zeit entstanden und von Beginn an aufeinander bezogen, sind sie zugleich erbitterte Gegner und Konkurrenten im politischen Kampf um die Grundausstattung der modernen Welt. Doch sind beide Strömungen nicht immer klar voneinander zu trennen. Insbesondere das liberale Denken hatte viele Nuancen und deckte ein breites Meinungsspektrum von konservativem Gedankengut auf der »rechten« und demokratischem auf der »linken« Seite ab. Im Ringen um die ausgewogene Mitte wurde es sowohl liberal-konservativ wie liberal-demokratisch verstanden. Als liberal galt in Deutschland, wer die Freiheit des Einzelnen im staatlichen und gesellschaftlichen Leben erstrebte, losgelöst von herkömmlichen Bindungen und Beschränkungen. Ganz im Sinne der Aufklärungsphilosophie sollte die Emanzipation des Individuums sicherstellen, dass sich jeder einzelne Mensch nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten frei entfalten könne, um auf diese Weise dem eigenen Nutzen wie auch dem allgemeinen Fortschritt zu dienen. Allerdings war man hinsichtlich der Grenzen der Freiheit geteilter Meinung, wobei die Befürworter wirtschaftlicher Freiheit breitere Resonanz in der Bevölkerung fanden als diejenigen, die für politische Freiheit eintraten. Die Anzahl ihrer Vertreter blieb marginal.Evolution statt Revolution, Tradition statt ReaktionWährend sich der Liberale um 1800 durch die Unbefangenheit des Aufgeklärten gegenüber Vorurteilen auszeichnete und damit offen war gegenüber den als zeitgemäß empfundenen Veränderungen in Staat und Gesellschaft, war die öffentliche Meinung in der Frage der geistig-politischen Auseinandersetzung über die Folgen der Französischen Revolution in begeisterte Anhänger, sympathisierende Beobachter und erbitterte Gegner gespalten. Dies war die Geburtsstunde des Konservativismus, der nun im engeren Sinne zum Sammelbegriff wurde für alle Deutungen, Bestrebungen und Bewegungen, die auf die Erhaltung des politischen Zustands abzielen und ein an den geltenden Normen und Werthierarchien orientiertes Programm verfechten, ohne jedoch Reform und Veränderung prinzipiell abzulehnen. Die konservative Geisteshaltung zielte im Wesentlichen auf Evolution, nicht Revolution, auf Tradition, nicht Reaktion.Verstand sich der Konservativismus im modernen Sinne ursprünglich als Gegenbewegung zur politisch-sozialen Revolution in Frankreich, so nahm er bis 1848 als eine der bestimmenden politisch-weltanschaulichen und ideologischen Gedankengebäude Gestalt an. Die 1790 erschienenen »Betrachtungen über die Französische Revolution« von Edmund Burke gelten als das bedeutendste Werk des europäischen Konservativismus. Ausgehend von der Reformtradition im britischen Parlamentarismus wies Burke die von der Französischen Revolution propagierten Menschenrechte nicht im Sinne der staatlich zu schützenden Grundrechte, sondern als vorstaatliche, unbeschränkte Handlungsfreiheit des Individuums zurück. Den universell gültigen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit setzte er die Ansprüche praktischer Staatsklugheit entgegen. Burkes Ausführungen hatten in mancherlei Hinsicht prophetischen Charakter, und seine in Bezug auf den Ausgang der Revolution pessimistische Vorhersage wurde durch die Terrorherrschaft der Jakobiner in den Jahren 1793/94 unmittelbar bestätigt.Sahen in der angelsächsischen Welt sowohl viktorianische Liberale als auch moderne amerikanische Neokonservative in Burke den Stammvater, so übte sein Denken in Deutschland auf seinen Übersetzer Friedrich Gentz, aber auch auf Hegels Konzeption der »List der Vernunft« einen großen Einfluss aus. Das Spektrum seiner Rezipienten reichte von paternalistisch-gegenrevolutionären Autoren in Frankreich (Joseph de Maistre, Louis de Bonald) über kompromisslose Verteidiger des Status quo (Adam von Müller) bis zu den Vorkämpfern einer vorsichtigen Reformpolitik (August Wilhelm Rehberg, Freiherr vom Stein, Joseph von Görres).Während man bei Burke von einer freiheitlichen, konservativen Ideenwelt sprechen kann, repräsentieren Novalis und Friedrich von Schlegel den christlich-romantischen, aber nicht unbedingt reaktionären Konservativismus. Zuvor hatte sich in den Schriften Justus Mösers der gegen den aufgeklärten Absolutismus gerichtete Konservativismus Ausdruck verschafft. Hatten im Verlauf von Französischer Revolution und im Kaiserreich progressive Kräfte entscheidend zur Konstruktion Europas beigetragen, so kam nach dem Sturz Napoleons der Gegenentwurf einer nachrevolutionären Gesellschaft zum Tragen, der in François René de Chateaubriand und später in François Guizot wie Alexis de Tocqueville seine markantesten Verfechter fand. Als bedeutendster Vertreter konservativen Gedankenguts nach 1815 im deutschsprachigen Raum gilt der Schweizer Carl Ludwig von Haller, der in seinem Hauptwerk »Restauration der Staatswissenschaft« (1816—34) nicht nur der Epoche seinen Namen gab, sondern auch über seine am Vorbild Berns orientierte altständische, patriarchalische und legitimistische Staatstheorie auf den preußischen Konservativismus (Gebrüder Ernst Ludwig und Leopold von Gerlach) stark einwirkte.Anders als der Konservativismus, dessen geistig-politisches Fundament sich als Reaktion auf die liberalen, dann jakobinischen Denkströmungen herausbildete, verstand sich der Liberalismus zugleich auch als soziale Emanzipationsbewegung, die aus dem Protest gegen die Privilegien von Adel und Kirche hervorgegangen war. Als Gründungsväter von Liberalismus und Demokratie gelten die Franzosen Montesquieu und Jean-Jacques Rousseau, die in den liberalen und demokratischen Vorstellungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Spuren hinterlassen haben. Neben den rein ideengeschichtlichen Betrachtungsweisen bildete der ökonomische Ansatz die klassische Grundlage des europäischen Liberalismus. Der Schotte Adam Smith begründete in seiner »Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums« (Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, 1776) den modernen Wirtschaftsliberalismus. Hierin wird der Reichtum auf die Arbeit des Menschen zurückgeführt und dessen natürliches Interesse, nämlich den eigenen materiellen Vorteil zu suchen, hervorgehoben. Als Voraussetzung für die freie wirtschaftliche Entfaltung des Individuums, jenseits staatlicher Reglementierung und behördlicher Bevormundung, formulierte Smith die Maxime des freien Wettbewerbs und die Theorie des Freihandels.Ideengeschichtlich verkörperten die Girondisten in der Revolutionsepoche die klassischen politischen und ökonomischen Spielarten des Liberalismus, und der Geistliche und Politiker Emmanuel Joseph Graf Sieyès, der dank seines geschickten Anpassungsvermögens die Revolution und auch Napoleon überlebt hat, ist einer ihrer ersten großen Gestalten. Seinen Ruhm verdankte Abbé Sieyès, wie er genannt wurde, seinem energischen Eintreten bei der Fixierung von Maximen des französischen Liberalismus in der Anfangsphase der Revolution: Freiheit des Individuums, Gleichheit aller vor dem Gesetz, Volkssouveränität und Repräsentativkörperschaften. Wie die meisten Liberalen misstraute Sieyès der Beteiligung des Volkes an der Regierung und versuchte dies mithilfe von Wahlrechtsbeschränkungen zu verhindern. Dagegen sah das wirtschaftspolitische Programm der Girondisten keine staatlichen Beschränkungen vor, sondern ein weitgehend freizügiges Laisser-faire, Laissez-passer aller am Wirtschaftsprozess beteiligten Akteure.Neben den politischen Theoretikern sind es im 19. Jahrhundert vor allem die politisch engagierten Publizisten und Historiker gewesen, die die öffentliche Meinung beeinflusst haben. Sowohl die Schriften von Benjamin Constant de Rebecque als auch die Revolutionsdarstellungen von François Mignet und Adolphe Thiers vermitteln Einblicke in die liberale Zeitkritik und in die liberalen Ansprüche an Staat und Gesellschaft. Der Ansatz und das Ziel sind politischer Natur: Es ist ein historisch-politischer Angriff auf die herrschende bourbonische Reaktion mittels einer historischen Rechtfertigung der Revolution.Die »Erfindung« der NationSeit der Französischen Revolution gehört der Begriff »Nation« zu den Grundbegriffen unserer politischen Sprache. Er verkörpert die breiteste politische Denkströmung der jüngeren Neuzeit. Zwar gab es den Begriff der Nation schon längst, beispielsweise an den mittelalterlichen Universitäten oder als Bezeichnung selbstständiger Souveränitäten, die sich im frühneuzeitlichen Europa herausgebildet hatten. Aber darunter verstand man im Allgemeinen eine »Adelsnation« und nicht eine »Bürgernation«, wie sie die Französische Revolution von 1789 definierte, um damit gleichzeitig die Grundlage für die Herausbildung der modernen Nation zu schaffen.Im Unterschied zu Kontinentaleuropa existierten allein auf der britischen Insel bereits seit der Glorreichen Revolution von 1688 eindeutige Beweise für die Realität der englischen Nation. Äußere Kennzeichen waren die Einheitlichkeit der Sprache und der Religion, und das Londoner Parliament galt im Bewusstsein des englischen Volkes als nationale Interessenvertretung. Als der politische Druck Englands auf Schottland zu Beginn des 18. Jahrhunderts immer größer wurde, trat am 1. Mai 1707 eine staatliche Union beider Königreiche in Kraft. Das vereinigte Königreich firmierte nun unter dem neuen Staatsnamen »Great Britain« (Großbritannien), was in der gemeinsamen Flagge, dem Union Jack, symbolisch zum Ausdruck kommen sollte. Sie setzt sich zusammen aus dem Georgskreuz für England und dem Andreaskreuz für Schottland. Die staatsrechtliche Union mit Irland kam erst nach langen Kämpfen und Verhandlungen 1801 zustande. Sie dauerte über ein Jahrhundert und brach mit der Trennung des Freistaats von Großbritannien 1921 wieder auseinander.Die Selbstkonstitution der französischen NationIn Frankreich wurden über die Politisierung breiter Kreise der Bevölkerung seit der Aufklärung ältere und ursprüngliche Gefühle, basierend auf gemeinsamer Herkunft, Sprache und Denkungsart, geweckt. Neben den bereits bestehenden religiösen, sozialen und korporativen Gemeinschaften bildete sich 1789 eine politische heraus, die sich nicht mehr als Zusammenschluss einzelner Stände, sondern als Gemeinschaft der Interessen verstand. Diesem damit einhergehenden neuen staatlichen und sozialen Umwälzungsprogramm hatte das Ancien Régime wenig entgegenzusetzen. Es brach relativ lautlos und fast ohne Gegenwehr in sich zusammen. Die Revolution proklamierte die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, und der Staat war in seiner Gewaltausübung fortan an eine Verfassung gebunden. Damit veränderten sich die sozialen Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern ebenso grundlegend wie das rechtliche Verhältnis zwischen Staat und Bürgern. Darüber hinaus entwickelte sich im Gefolge der Revolution ein Geschichtsbewusstsein, nach dem sich die Gesellschaft als Gemeinschaft durch gemeinsame Vergangenheit und Zukunft verbunden sah. Die Selbstkonstruktion der französischen Nation ging hervor aus einer rapiden Beschleunigung des sozialen und wirtschaftlichen Wandels und gleichzeitiger Politisierung der Gesellschaft.Allerdings schuf der Absolutismus bereits den modernen Staatsapparat, indem er den systematischen Aufbau staatlicher Institutionen und einer auf Kompetenz und nicht auf Privilegien beruhenden Verwaltungsbürokratie in die Wege leitete. In gewissem Sinn, auch wenn die Revolutionäre dies nicht wahrhaben wollten, bereitete die alte Monarchie, ohne es zu wollen, den modernen Nationalstaat vor. Mit der Konzentration der Macht beim Souverän in dem zur königlichen Zentrale ausgebauten Schloss Versailles, unter Zurückdrängung und Nivellierung älterer sozialer Gruppierungen aus Adel und Klerus und gleichzeitiger Aufnahme bürgerlicher Fachkräfte in die Regierungsverantwortung hatte Ludwig XIV. diesen Weg Frankreichs in die Moderne eingeleitet.Ein wesentliches Merkmal des neuen Staates lag demnach in der Kontinuität seiner Entwicklung begründet. Aber, welche Form hatte die neu proklamierte französische Nation, nachdem die Bastille geschleift, der Bruch mit dem alten Staat vollzogen und der Absolutismus der Bourbonen rückblickend zum Ancien Régime erklärt worden war? Wie es sich der Abbé Sieyès als maßgeblicher politisch-intellektueller Ideenlieferant erhoffte, erschufen sich die Revolutionäre ab dem Herbst 1789 eine eigene, gänzlich neuartige Nation. Für die Selbstkonstitution galten zwei grundsätzliche Bedingungen: Die Nation erhielt erstens eine neue Legitimität und zweitens eine neue Souveränität. Frankreich war nun eine konstitutionelle Monarchie, der König nicht mehr oberster Souverän, sondern das Volk. Die nationale Vergangenheit der absoluten Monarchie wurde in eine neue, auf einheitlichen Gesetzen beruhende, durch Volksrepräsentanten vertretene, universalistisch begründete Nation umgewandelt. Der Kollektivsingular »Nation« verstand sich zugleich als handelnde Kollektividentität, das heißt, der Einheitsgedanke wurde zur tragenden Säule der Nation, die sich in der Folgezeit von allen anderen durch die absolute Radikalität ihrer Prinzipien und ihrer expansiven Fähigkeiten unterschied.Die Einheit manifestierte sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: einheitliche Verwaltungseinteilungen, Nationalerziehung, Zivilkonstitution des Klerus, Nationalisierung der Regionalsprachen. Schließlich bündelten und verdichteten kollektive Reinigungs- und Wiedergeburtsfeiern wie die einzelnen Föderationsfeste oder das Fest des Höchstens Wesens diesen epochalen Nationalisierungsprozess.Prof. Dr. Erich PelzerWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Nation: Ein DeutungsansatzLiberalismus: WirtschaftsliberalismusGrenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, herausgegeben von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig 1993.
Universal-Lexikon. 2012.